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Sachveständigentätigkeit klärt Unfall auf.
Inhalt: Vorfall in Bad Essen Keine Unfallflucht: Bizarrer Prozess gegen Awigo-Mitarbeiter endet mit Freisprüchen
Von Hendrik Steinkuhl | 11.11.2025, 10:02 Uhr
Viel spricht dafür, dass ein Sperrmüllwagen der Awigo für den Unfall verantwortlich ist – die Angeklagten haben mit dem Vorfall aber offenbar nichts zu tunEin 64-jähriger Bissendorfer und ein 56-jähriger Mann aus Georgsmarienhütte mussten sich vor dem Landgericht Osnabrück wegen des Vorwurfs der Unfallflucht, des Prozessbetrugs und der Falschaussage verantworten. Nachdem die Awigo-Mitarbeiter bereits in erster Instanz freigesprochen worden waren, zog die Staatsanwaltschaft nun die Berufung zurück.
Der Vorfall, der vor der 5. Kleinen Strafkammer des Landgerichts verhandelt wurde, liegt bereits fünf Jahre zurück. Am 22. Dezember 2020 soll laut Anklage der Sperrmüllwagen, an dessen Steuer der 64-jährige B. aus Bissendorf saß, in Bad Essen einen Pkw gerammt haben.
Die Staatsanwaltschaft Osnabrück warf dem Angeklagten konkret vor, dass der 56-jährige M. aus GM-Hütte an jenem Tag ausstieg, um seinen Kollegen B. einzuweisen. Der Sperrmüll-Abholwagen sei rückwärts auf den Parkplatz in Bad Essen gefahren und habe dort einen Ford Escort „großflächig eingedrückt“. Daraufhin sei B. auf Zuruf seines Kollegen M. ausgestiegen und habe sich den Schaden angesehen. Statt darauf zu reagieren, hätten sie den Sperrmüll eingeladen und seien einfach weggefahren.
Der Halter des Wagens verklagte daraufhin die beiden Männer zivilrechtlich vor dem Amtsgericht. „In öffentlicher Sitzung sagte der Mitangeklagte bewusst wahrheitswidrig aus, dass es nicht zum Zusammenstoß gekommen sei“, heißt es in der Anklage. Deshalb ging es im anschließenden Strafprozess nicht nur um Unfallflucht, sondern auch um Prozessbetrug und uneidliche Falschaussage.
Während der Kläger im Zivilprozess Recht bekommen hatte, die Versicherung der beiden Awigo-Mitarbeiter also zahlen musste, sah es im Strafprozess anders aus. Hier kam das Amtsgericht Osnabrück zu dem Ergebnis, dass man nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen könne, dass der Sperrmüllwagen der beiden Männer für den Zusammenstoß verantwortlich war. Nach dem Grundsatz In dubio pro reo wurden die Männer von allen Vorwürfen freigesprochen.
Damit folgte das Gericht den Anträgen aller Beteiligten – denn nicht nur die Verteidiger der Angeklagten, auch die Staatsanwaltschaft hatte einen Freispruch beantragt. Und trotzdem legte die Staatsanwaltschaft einige Tage später Berufung gegen das Urteil ein.
Zur Einordnung: Vor allem bei kleineren Strafsachen schickt die Staatsanwaltschaft häufig eher unerfahrene Vertreter in eine Hauptverhandlung. Nach der Urteilsverkündung kann es passieren, dass etwa der für das Verfahren eigentlich zuständige Dezernent Berufung einlegt, selbst wenn der Sitzungsvertreter – wie in diesem Fall – einen Freispruch beantragt hatte.
In ihrer Begründung für die Berufung erklärte die Staatsanwaltschaft, das Amtsgericht habe sein Urteil eigentlich nur auf die Einlassung der beiden Angeklagten gestützt; eine Befragung der einzigen Tatzeugin habe das Gericht unterlassen.
Dieser Vorwurf traf auch zu. Allerdings war die Tatzeugin zu diesem Zeitpunkt dem Vernehmen nach bereits schwer krank. Deshalb verzichtete das Gericht auf ihre Befragung und verlas nur die Aussage, die die Frau bei der Polizei abgegeben hatte.
Kurz danach, noch vor der ersten Berufungsverhandlung, starb die Zeugin. „Spätestens dann hätte die Staatsanwaltschaft die Berufung doch zurückziehen können, schließlich hatte sich damit doch der Berufungsgrund erledigt“, sagte Rechtsanwalt Carsten Canenbley im Gespräch mit unserer Redaktion. Canenbley verteidigte im Verfahren den 56-jährigen M. aus GM-Hütte.
Das Berufungsverfahren entwickelte sich schließlich zu einer unendlichen Geschichte. Erst stellte man fest, dass der 56-jährige M. einen Dolmetscher brauchte. Dann erschien ein Zeuge nicht. Schließlich war ein bestelltes Gutachten nicht ausreichend und musste erweitert werden.
Weil es bei keinem dieser Probleme gelang, innerhalb der darauf folgenden drei Wochen einen neuen Termin anzusetzen, musste das Verfahren ausgesetzt und jedes Mal wieder neu gestartet werden. Zur Einordnung: Die Strafprozessordnung schreibt vor, dass eine Hauptverhandlung höchstens drei Wochen unterbrochen werden darf, ohne dass sie neu begonnen werden muss.
Und so zog sich die Berufungsverhandlung schließlich über Jahre hin – und endete nun doch. Wie kam es dazu?
Nachdem der Vorsitzende Richter Peter Reichenbach zum x-ten Mal das Urteil der ersten Instanz vorgelesen und die Angeklagten ebenfalls zum wiederholten Mal ihre Einlassung vorgetragen hatten, nachdem ein pflegebedürftiger Zeuge nach technischen Problemen per Video-Konferenz befragt wurde und weitere Dinge vorgetragen wurden, kam der technische Sachverständige Ludger Helmig an die Reihe.
Der Ingenieur stellte ausführlich sein Gutachten vor – bereits bekannt war, vereinfacht gesagt, dass der Schaden an dem Pkw sehr gut mit der Form eines Awigo-Sperrmüllwagens in Übereinstimmung zu bringen war. Doch war es wirklich dieser Sperrmüll-Wagen, der von dem 64-jährigen B. gefahren wurde?
Das fand Helmig in seiner Untersuchung nicht bestätigt. „Ein Geradeausfahren, wie es die verstorbene Zeugin gesehen haben will, lässt sich mit den GPS-Signalen nicht in Übereinstimmung bringen.“ Das Fahrverhalten, wie es hingegen der 64-jährige Bissendorfer wieder und wieder in seinen Einlassungen geschildert hatte, stimme hingegen mit den GPS-Daten überein.
Für eine Verurteilung der Angeklagten fehlte damit jede Grundlage. „Wollen Sie mal telefonieren gehen?“, fragte der Vorsitzende Richter Peter Reichenbach die Vertreterin der Staatsanwaltschaft. Denn auch jetzt hatte die Behörde wieder eine jüngere Vertreterin geschickt, die nicht eigenständig über eine Rücknahme der Berufung entscheiden durfte.
„Ich muss erst mal schauen, ob ich den zuständigen Dezernenten erwische – der hat ja im Verlauf dieses Verfahrens mehrfach gewechselt“, sagte die Vertreterin der Staatsanwaltschaft. Nach einer weiteren Unterbrechung und einem offenbar erfolgreichen Anruf teilte sie dann mit, dass die Behörde die Berufung zurücknehme. Darauf reagierte der Vorsitzende Richter Peter Reichenbach spürbar erleichtert: „Ein langer Weg geht zu Ende.“
Das Gericht bestätigte damit schließlich die Freisprüche der ersten Instanz. Die Kosten für die Verteidiger der beiden Angeklagten, für die Gutachten des technischen Sachverständigen und für die Aufwendungen des Gerichts übernimmt damit vollständig die Staatskasse.